An einem Heiligabend - 3
Es war im Winter. Eine alte Frau saß zu Hause und strickte das ganze Jahr über Handschuhe, Strümpfe, Socken und viele andere warme Sachen aus Wolle. Diese Sachen, die sie nun flei-sig gestrickt hatte, verkaufte sie in der Advents- und Weihnachtszeit an der Tür, um sich so einen kleines Zubrot zu ihrer kleinen Rente zu verdienen. Schon des öfteren war sie um diese Zeit unterwegs gewesen und hatte einiges an Wollsachen verkauft. Es war wieder einmal so-weit und die Advents- und Weihnachtszeit rückte immer näher. Hier und dort mußte noch einiges an den Sachen ergänzt werden. Das waren also Dinge, die noch unbedingt gemacht werden mußten. Heute war Heiligabend. Sie ging wieder, um noch die letzten Sachen zu verkaufen. Sie ging von Tür zu Tür. Bei dem Schnee treiben bemerkte sie nicht, daß sie im-mer näher an den Waldrand kam, an dem ein Haus stand, in dem ein alter Mann wohnte.
Dieser alte Mann hatte, nachdem er sich beim Förster die Erlaubnis dafür geholt hatte, am Vormittag eine Tanne im Wald geschlagen. Nun lag er auf dem Sofa, um sich auszu-ruhen, denn er wollte an diesem Heiligabend zur heiligen Messe in die Stadt gehen. Wie der alte Mann so dalag, schaute er sich seinen Tannenbaum an, den er den ganzen Tag in aller Ruhe geschmückt hatte. Die Krippe hatte er auch schon aufgebaut. Erst kürzlich hatte er sie aus der Kammer hervorgeholt und hier und da noch einige Stellen an den Figuren ausgebessert. Er erfreute sich an der Krippe und den Duft der Tanne, die das ganze Zim-mer erfüllte. So lag er nun da und dachte bei sich: „Ach, ich werde, bis ich zur heiligen Messe am Abend in die Stadt gehen werde, mich noch ein wenig ausruhen und einige sehr wirkliche schöne weihnachtliche Geschichten lesen.“ Eben, als er beim Lesen war, da klopfte es an seine Tür. Er horchte und dachte: „Das wird wohl der Wind gewesen sein,“ so dachte er und las weiter. Nach einiger Zeit klopfte es erneut. „Ja das wird wohl wieder der leise Wind gewesen sein, aber sicherheitshalber werde ich nun doch einmal nachschauen, was das un wirklich ist“, dachte er und ging zur Tür, öffnete sie, und sah dort im dichten Schnee eine alte Frau stehen. Sie fragte ihn: „Ich möchte sie fragen, ob sie mir einige warme Sachen abkaufen, die ich selbst gestrickt habe?“ „Ach, kommen sie doch erst einmal herein, und trinken sie mit mir eine Tasse heißen Kaffee und wärmen sich bei mir auf.“ „Vielen Dank“, sagte sie, „gerne.“ Sie trat also ein und nahm in der guten Stube auf dem Sofa Platz. Bei einer heißen Tasse Kaffee unterhielten sich die beiden über dieses und jenes und auch darüber, wie sie das ganze Jahr über herrliche Sachen strickte, um sie dann, eben zu dieser schönen Zeit, zu verkaufen. Heute war nun der letzte Tag, um den Rest zu verkaufen. Wie die beiden alten Herrschaften sich so unterhielten, kamen sie auch auf die gute alte Zeit zu sprechen. Er erzählte ihr, daß er alleinstehend sei und nun seit vielen Jahren hier in diesem Haus am Waldrand wohne und er sich dabei ganz wohl fühlt. Sie erzählte ihm, Karl war übrignens sein Name, daß sie eigentlich noch verheiratet sei, denn ihr Mann sei im zweiten Weltkrieg als vermißt gemeldet worden. Seitdem habe sie sich damit abgefunden und so ihr Leben schlicht und einfach alleine geführt. Karl fiel eben ein, daß er in seiner Kammer tat-sächlich noch einen Schuhkarton mit Fotos hatte. Kaum war er weg, um sie zu holen, war er auch schon wieder da. Er setzte sich wieder auf das Sofa, und beide schauten sich die Fo-tos an. Karl suchte nach einem bestimmten Foto. Da, er hatte es gefunden. Es zeigte ihn und seine Freundin Annegret. Um sich das Bild nun noch genauer anzusehen, setzte er sich sei-ne Brille auf. Er sah ganz genau hin. Es war scheinbar unmöglich, aber es war eine unum-stößliche Tatsache, auf dem Bild waren er und seine Freundin Annegret. Auch sie schaute sich das Bild genauer an und sie erkannte sich wieder. Sie drehten das Bild um, und was sahen sie? Auf der Rückseite standen die Namen „Annegret und Karl.“ Die beiden Herrschaften schauten sich an. „Heute“, sagte Annegret,“ wäre ich fünfzig Jahre verheira-tet, und wir hätten heute goldene Hochzeit.“ Karl sagte: „Ich bin heil aus dem Krieg zurück-gekommen, aber ich bin in eine andere Stadt gezogen, und nach dem Krieg hat alles mein eifriges Suchen nach meiner Frau keinen Erfolg gehabt, ich bin allein geblieben.“ Sie schauten sich die Fotos, die sie damals gemacht hatten, genauer an. Sie waren auf der Rückseite mit Namen und Datum versehen, und dabei erkannten sie die Handschriften, ihre und seine, wieder. Es bestand kein Zweifel, die Bilder und die Handschriften sagten wirklich die Wahrheit, die beiden hatten sich wiedergefunden. Heute, am Heiligabend ja, da hatten sie wirklich goldene Hochzeit, denn im Jahre 1942 hatten sie geheiratet. Karl holte das Stammbuch das er noch besaß, und siehe da, es stimmte alles überein. Sie betrach-teten das Stammbuch noch eine Weile und schauten sich an. Er hielt ihre Hand - die ganze Zeit schon. Und sie erzählten von sich und der Zeit, als sie alleine waren, und wie sich vieles so sehr in der vergangenen Zeit verändert hatte. Karl und seine Annegret standen mühsam auf, gingen zur Krippe, knieten dort nieder, um Gott dafür zu danken, daß sie sich nach so vielen Jahren wiedergefunden hatten. Danach setzten sie sich wieder auf das Sofa und ihr Karl fragte seine Annegret: „Gehst du mit mir heute abend in die heilige Messe?“ „Ja,“ ant-wortete Annegret. „Ach“, sagte sie, „reiche mir doch bitte eben die Tasche herüber.“ Sie nahm sie an schaute hinein und siehe da, es waren noch zwei Teile darin, ein Schal und schöne ein paar Handschuhe. Diese schenkte sie ihrem Karl. „Für dich habe ich nichts, liebe Annegret, nur meine Liebe zu dir“, sagte er. Sie ruhten sich noch ein wenig aus. Eine gute halbe Stunde vor Mitternacht gingen sie beide los und waren somit rechtzeitig in der Kirche. Noch einmal knieten sie sich an der Krippe nieder, um Gott noch einmal dafür zu aufrichtig danken, daß sie sich nach langer Zeit wiedergefunden hatten. Nach der heiligen Messe brachte Karl seine Annegret nach Hause. Anschließend ging er auch nach Hause. Nach einigen Wochen, nach dem alles bürokratische in Ordnung gebracht worden war, zo-gen Karl und seine Annegret wieder in eine gemeinsame Wohnung. © 1995 Heribert Immel, Essen.